Heike Baller ist wie ich Mitglied im Texterinnen-Netzwerk Texttreff . Im Rahmen dieses Netzwerkes wird bei einer Blogwichtelaktion unter den mitmachenden Bloggerinnen allweihnachtlich ausgelost, wer für welches Blog einen Gastbeitrag schreiben darf. Diesmal traf das Los Heike Baller, die eine spannende Stellungnahme zum Thema Heimat verfasst hat. Danke, liebe Heike!
Heimat – und was, wenn sie verloren ist? Eine aktuelle Frage heutigentags, wo viele Menschen ihre Heimat wegen Krieg, Gewalt, Dürre oder politischer Verfolgung verlassen müssen. Niemand tut das freiwillig. Schon gar nicht, wenn der größere Teil der Familie zurückbleiben muss, wenn die Reise selber schon ein Wagnis ist. Das entspricht nicht unserem „Auswandern“, von dem wir uns eine Verbesserung unserer Lebensumstände versprechen, einen Neuanfang persönlicher oder beruflicher Art. Flucht ist immer gewaltsam – ein Herausgerissenwerden, ein äußerer Zwang.
Und die Heimat? Die bleibt zurück. Die vertraute Umgebung, vor allem die vertrauten Menschen. Das Stadtviertel oder das Dorf, Haus oder Wohnung, die Nachbarschaft, enge und entfernte Verwandte, der berufliche Kontext – wer flieht, lässt all‘ das hinter sich zurück.
Das war schon immer so. Und als Tochter und Enkelin Geflüchteter kann ich sagen, dass der Verlust von Heimat nachwirkt. „Nur“ die ersten zehn Jahre verbrachte mein Vater in seiner Heimat. Und noch als Achtzigjähriger meinte er mit „zu Hause“ das großelterliche Hotel in einem Marktflecken in Ostpreußen, das Lehrerhaus an der Memel. Über 50 Jahre Rheinland – das zählte nicht, wenn es um Heimat ging. Auch meine Mutter war keine Rheinländerin – der zweite Weltkrieg hat meine Familie von Mutters wie von Vaters Seite entwurzelt. Auch wenn ich im Rheinland geboren bin – „Heimat“ ist es nur so halb: Ich beherrsche den Dialekt nicht, in meinem Erinnerungsschatz sind Bilder von viel weiter östlich als „Heimat“ gespeichert – Ostpreußen, Brandenburg.
Bei allen dialektalen Unterschieden: Es ist dieselbe Sprache. Trotzdem kann auch mein Nachwuchs nicht kölsch sprechen – es gibt kein Vorbild dafür in unserer Familie. So wirkt die Entwurzelung weiter.
Und was erwarten wir dann von denen, die nun gerade traumatisiert hier ankommen? Dass sie die Sprache schnellstmöglich lernen. Ja, das ist sinnvoll, denn nur wer sich verständigen kann, kann sich mitteilen – also teilnehmen am Leben hier. „Sich integrieren“ sollen die, die aus völlig anderen Kulturen kommen – meist heißt das: sich anpassen. Als die, zu denen die Geflüchteten kommen, vergessen wir ihre Heimat nur allzuschnell und sehen vor allem auf die Schwierigkeiten, die ihre andere Prägung uns macht. Verständlich, aber – verständnisvoll oder mitfühlend geht anders.
Als nach dem zweiten Weltkrieg Menschen aus den östlichen Gebieten nach Westen kamen (und mit „Westen“ sind Thüringen, Sachsen usw. mitgemeint!), waren sie alles andere als willkommen. Niemand hatte genug zu essen in der ersten Nachkriegszeit – und dann noch abgeben? Ostpreußen, Pommern, ja selbst Schlesien – das lag für viele schon halb in Russland oder Polen. Das bekamen die Geflüchteten schmerzhaft zu spüren. Dialektale Färbung der Sprache – die sind unfähig, richtig Deutsch zu sprechen (und das von Menschen, die selber Dialekt sprachen). Besitztum zu Hause gehabt – warum seid Ihr nicht da geblieben? Unnütze Fresser hießen die Kinder (political correctness war noch nicht erfunden) und ihre erwachsenen Verwandten, die vor der russischen Armee geflohen waren.
Kommt Ihnen bekannt vor? Ja, die Reaktion heute ist an vielen Orten genau wie vor rund 70 Jahren. In meinen Augen ist sie sogar noch schlimmer – war vor 70 Jahren der Mangel allgemein und Abgeben deshalb unbeliebt, ist heute die Grundlage eine anderen; Abgeben dürfte großen Teilen von uns nicht so schwer fallen, weil wir doch so viel haben. Das passiert auch vielerorts – Willkommensinitiativen gibt es überall. Doch ins Bewusstsein dringen vor allem die fremdenfeindlichen, lauten Reaktionen, die Gewaltakte gegen Menschen, die alles verloren haben.
Heimat lässt sich nicht willkürlich neu schaffen. Schon gar nicht unter dem Druck von Angst. Schon gar nicht in einer völlig anderen Kultur und Sprache. Neue Heimat zu finden, heißt, einen langen Atem haben und das Glück, willkommen zu sein. Integration kann keine Einbahnstraße sein – sie nur von denen zu fordern, die hier Zuflucht suchen, ist nicht „zielführend“.
Wer aus Ihrer Familie hat infolge des zweiten Weltkriegs liebe Menschen oder die Heimat verloren? Wie lange ist das ein Thema in Ihrer Familie? Wenn wir uns die Parallelen deutlich machen, sollten wir es schaffen, die herzlich aufzunehmen, die den Weg zu uns gefunden haben und so viel zurücklassen mussten. Stellen Sie sich nur einmal vor, dass die Enkelinnen und Enkel derer, die da kommen, auch noch in 50 Jahren der verlorenen Heimat anhängen müssen, weil ihre Eltern und Großeltern hier nicht Fuß fassen konnten, keine neue, zweite Heimat finden konnten, weil wir uns dagegen gewehrt haben.
Wer flieht, tut das nicht freiwillig. Der Verlust der Heimat ist neben traumatischen Erlebnissen eine zusätzliche Bürde. Wenn wir uns daran erinnern, dass wir als Gesellschaft das selbst erlebt haben und die Folgen immer noch spüren, dann sollte uns die ausgestreckte Hand leichter fallen.

Heike Baller
Heike Baller ist seit Mitte der 90er Jahre als Rechercheurin selbständig, lehrt Recherche an der Uni und beim Lehrerverband NRW oder der Akademie des Philologenverbandes und freut sich über jedes Fitzelchen neuen Wissens, das der anregende Beruf so mit sich bringt.